Eine Bewegung zuviel

Wenn man jung ist, folgt die Welt eigenen Gesetzen. Sie dem echten Leben anzupassen, ohne dass die Dynamik verlorengeht, ist eine Leistung, die in der Literatur Coming of age heißt. Daraus leitet sich der Erfolg vieler Jugendbücher ab, Erwachsenwerden als Chance statt als Zumutung. Angie Thomas beruft sich auf dasselbe Prinzip. Ihr Geschichte ist die einer Jugend in einem Paralleluniversum.

Ein weißer Cop richtet die Waffe auf einen jungen Afro-Amerikaner, weil er ihn als gewaltbereit einstuft. Und drückt ab. Das ist keine fiktive Buch-Szene, sondern hat sich in der jüngsten Vergangenheit mehrfach im echten Leben so abgespielt. Seit vier Jahren gibt es in den Vereinigten Staaten die Bewegung #blacklivesmatter, schwarze Leben zählen. Sie beruft sich auf die US-Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre. Sie entstand 2013, nachdem ein Polizeibeamter einen farbigen Jugendlichen auf offener Straße erschoss, dafür vor Gericht gestellt und freigesprochen wurde. Handelte er aus Notwehr oder war das Rassismus, sind seitdem die am meisten gestellten und am widersprüchlichsten diskutierten Fragen. Die Ursache der Gewalt wirkt dramatisch nebensächlich. Und jetzt: Ein Jugendbuch, das aufräumen möchte.

Angie Thomas, 29, ist in einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Mississippi aufgewachsen, vergleichbar ihrem Romanschauplatz Garden Heights, dem Zuhause von Starr Carter, 16. Sie ist Teil der afro-amerikanischen Community, sie kennt aber auch das „weiße Stadtleben“ jenseits ihres Viertels. Starrs Eltern, die in Garden Heights einen gut gehenden Laden führen, ermöglichen der Tochter, eine (weiße) Privatschule zu besuchen. Die Räume zu tauschen.

Auf einer Party begegnet Starr ihrem ehemaligen Mitschüler Khalil. Sie hat ihn länger nicht gesehen, sie weiß, dass er in seinem Leben ein paar krumme Dinger gedreht hat. Der Khalil an dieser Stelle des Buches macht aber einen gefestigten Eindruck. Jemand, der seinen Platz im Leben gefunden oder ihn in der Hierarchie der Gesellschaft eingenommen hat. Starr schildert, wie sich der zwei Jahre ältere Junge verantwortungsvoll um seinen jüngeren Bruder und die Großmutter kümmert.

Khalil zeigt sich auch ihr gegenüber aufmerksam-fürsorglich und bietet Starr an, sie nach der Feier nach Hause zu fahren. Auf dem Heimweg, im Autoradio läuft der Song „Thug life“ des US-Rappers 2Pac, der zum zentralen Motiv des Buchs wird, kommen die Jugendlichen in eine Polizeikontrolle. Khalil verlässt auf Anweisung des Cops den Wagen, Starr bleibt sitzen, nervös. Als Khalil sich noch einmal zum Autofenster hinunterbeugt, um nach ihr zu sehen und sicherzugehen, dass sie okay ist, töten ihn drei Schüsse aus der Dienstwaffe des Polizisten. Dieser hatte, während er die Papiere prüfte, die Bewegung im Rücken wahrgenommen, sich bedroht gefühlt und gewehrt. Eine Bewegung zuviel. Wobei: Die Ereigniskette, die sie auslöst, weicht dieses Mal ab.

Angie Thomas macht nicht den Vorfall sondern Starrs sich anschließendes Coming of age zum Thema des Buchs. Sie unterzieht Garden Heights einer Konfrontation mit sich selbst und seinen Gesetzen, die, statt sie nach außen (Richtung weißes Amerika) zu kommunzieren, die Fronten über Generationen verhärtet haben. Sie klagt parallel die weiße Seite und die schwarze Seite an. Starr ist der Spiegel beider. Angie Thomas findet klare Worte für das Grundproblem der Rassismusdebatte in den USA: Die schwarz-weiße Parallelwelt, deren Schnittstellen geräuschvoll aufeinanderprallen, die aber von beiden Seiten akzeptiert und zementiert werden. Nach dem Aufräumen zieht sich jeder in seine Hälfte zurück. Änderungswille? Thanks, but no thanks.

Thomas hat sich die Mühe gemacht, ihre persönlichen Erfahrung darzustellen, in einer zu Beginn des Buches schwer lesbaren Sprache, die der Sprechweise der afro-amerikanischen Community nachempfunden ist. Starr oszilliert zwischen dem Weltverständnis, das sie von klein auf gelernt hat, und dem Verständnis einer Nation, die sich für gerecht und gut hält. Die Ebenen einander anzunähern, ist ein Generationenauftrag, macht die Autorin deutlich. Deshalb ist Starr mit dem Part der Aufklärerin an den Grenzen ihrer Möglichkeiten. Das ist realistisch. Die Botschaft an das Publikum trägt das Buch verknappt auf dem Titel: The Hate U give. In voller Länge lautet das Zitat „The Hate U (you) give little infants fucks everybody“, wer den Kindern schadet, schadet perspektivisch allen. Es sind die Anfangsbuchstaben den 2Pac-Songs „Thug life“.

Fotos: Anissa Hidouk / Cbj, Flickr, Reformation im Norden

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