Die begehbare To-do-Liste

„Ich danke euch, die ihr fragt, was ich der Welt zu sagen habe.“

Das Zitat stammt von einem Jungen aus Addis Abeba, der Hauptstadt Äthiopiens. Nach der Schule arbeitet er als Schuhputzer und verdient so einen Teil des Familieneinkommens. Andere verdienten mehr, schildert er, dadurch wachse der Druck, mitzuhalten. „Aber mein Schulabschluss ist mir wichtiger. Bildung macht mehr aus mir als alles andere.“

„Bildung ist eine Art greifbarer Gott“, sagt der Künstler Dawit Shanko. Er hat Briefe von 95 Schuhputzern aus Addis Abeba gesammelt, jedes Papier liegt – wie in einem Briefkasten – in einer hölzernen Schatulle. Darin hatten die Jungen zuvor ihr Schuhputzzeug aufbewahrt. Die Box von Dawit Shanko ist nicht darunter. „Sie gibt es nicht mehr“, begründet der mittlerweile in Berlin lebende Äthiopier. Zwischen seinem elften und seinem 17. Lebensjahr war Dawit auch ein Listro. So nennt man Schuhputzer in Addis Abeba, vor allem Jungs, zu denen jüngst aber immer mehr Mädchen stoßen.

Die 95 Briefe sind Teil eines größeren, 3500 Schuhputzboxen fassenden Kunstprojekts, mit dem Dawit Shanko seine Lesart von Reformation öffentlicht macht. „Briefe an die Welt“ heißt die Installation, die Listro-Kistchen sind raumhoch übereinandergestapelt wie Postfächer, zu einer begehbaren To-do-Liste der jungen Generation Äthiopiens: Was will ich ändern? Was brauche ich dafür? Welche Werte vertrete ich?

„Die Erwachsenen hören uns überhaupt nicht zu. Sie erlauben uns nicht einmal zuzuhören, wenn sie etwas miteinander bereden. Was Erwachsene wissen sollten, ist: In uns ist sehr viel. Wir müssen ihnen beibringen, zuzuhören. Ich werde Anwältin und mache das.“

„Kinder und Jugendliche muss man wertschätzen. Wir haben größere und bessere Pläne als die Erwachsenen.“

„Ich arbeite als Listro, um nicht von anderen abhängig zu sein und um der Armut zu entfliehen. Viele respektieren uns, aber es gibt doch Leute, die auf uns herabschauen. Das sollte nicht sein, da wir ein Teil der Gemeinschaft sind.“

Die Armut hinter sich zu lassen, ist die am häufigsten wiederkehrende Formulierung in den Briefen. Dawit Shanko erkennt Parallelen zu seiner Generation. Dass sich die Lebenswelt junger Afrikaner heute nur unwesentlich von der Situation der Kinder in den 1980ern und 1990er Jahren unterscheidet, ist für ihn keine traurige Bilanz, „vielmehr fällt mir dadurch auf, dass Herkunft etwas ist, das nicht verfällt. Meine Definition von Zukunft ist noch dieselbe wie vor 30 Jahren. Der Wert von Bildung hat nicht abgenommen. Dass ich mir konstant vornehme, die Welt besser zu hinterlassen als ich sie vorgefunden habe, ist Reformation. Bildung ist ihr Motor.“

Dawit Shanko bleibt mit seiner Heimat vernetzt. Er hat einen Verein gegründet und initiiert bilaterale Projekte mit Äthiopien. Dass ihm der Sprung nach Europa gelungen ist, verdankte er einem Studienstipendium, das ihn zunächst nach Cottbus brachte, von dort weiter nach Berlin. Er hat einen Abschluss in Vermesssungstechnik.

Dawit vergleicht: „In Addis Abeba ist am Rande der Stadt mehr Platz für Jugendliche, dort gibt es Räume, die sie gestalten können. Im Zentrum werden sie übersehen oder verdrängt. In Deutschland gibt es mehr Räume für die Jungen und überall, trotzdem ist ihre Wahrnehmung gering.“ Das inspiriert Veränderung. Das kann nicht so bleiben.

„Ein richtig großer Umbruch wie zu Martin Luthers Zeit kommt selten vor. Trotzdem passiert Reformation im Alltag, dort ist sie richtig. Ein Alltags-Luther zu sein, fände ich wirklich gut. Die Gesellschaft profitiert davon. Überall brauchen wir Menschen, die Reformationen anstoßen.“

Dawit Shankos Kunstprojekt „Briefe an die Welt“ war Teil des Reformationssommers in Lutherstadt Wittenberg. Aktuell hat er das Material in einem Depot nördlich von Berlin, in Brandenburg eingelagert und sucht „nach weiteren Möglichkeiten, die Reise der Briefe fortzuführen“.

Fotos: Listros e.V.

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