Viele Chöre haben ein Problem mit Männern. Genauer: Mit Männerstimmen, denn singbegeisterte Herren sind weniger zahlreich vertreten. Außer bei Singasylum in Dresden. Als vermutlich einziger Chor Deutschlands verzeichnet die Gruppe einen Überschuss an Sängern. Junge geflüchtete Männer aus Syrien, Eritrea, dem Irak oder Somalia kommen jede Woche mit Dresdnerinnen und Dresdnern zum Proben zusammen. Für die Harmonie(n) sorgt Samira Nasser. Die Studentin leitet den Chor. Gehört hat ihn unter anderem schon die Kanzlerin.
Die Begegnung mit „Mama Merkel“ absolvierte der Chor vergleichbar unaufgeregt. Verblüffter bemerkten die Sänger, „dass es in Berlin so viele Ausländer gibt“, erinnert sich Samira an ihre Reaktionen. Obwohl das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen in der Hauptstadt auch nicht immer friedlich abläuft, sind die Irritationen in Dresden größer, seitdem dort Pegida das Wort führt. „Montags in der Innenstadt, während oder im Anschluss an die Demonstrationen, ist aber noch nie jemand von uns angefeindet worden“, wirft Samira Nasser ein. Stattdessen erfuhr sie in zwei Fällen von Übergriffen in Dresdner Stadtteilen. In einem davon probt Singasylum.
2015 hatten zwei Studentinnen die Gruppe initiiert und via Facebook die Suche nach einem Chorleiter gestartet. Irgendwie tickerte die Nachricht auch in Samiras Postfach, die – zunächst zur Probe – zu den Proben stieß. Samira, 24 Jahre alt, studiert Schulmusik in Dresden. Es ist das erste Mal, dass sie einen Chor leitet. Das Projekt faszinierte sie auch deshalb, „weil interkulturelle Kompetenz gefragt war“, sagt die gebürtige Mecklenburgerin. Einen Arabischkurs belegte sie an der Hochschule, denn mit ihrem aus dem Jemen stammenden Vater spricht Samira Deutsch. „Ich bin nicht zweisprachig aufgewachsen. Ein wenig bedauere ich das, aber mein Vater lebt schon so lange hier, die Frage stellte sich nicht.“ Nach drei Wochen übernahm Samira die Proben.

„Stücke, die nicht nur auf Sprache basieren, sondern Tänze und Gesten einbeziehen“, so beschreibt sie das Repertoire von Singasylum. In den Pausen wird Deutsch gesprochen, nur wenn es gar nicht anders geht, wechseln die Sänger ins Arabische. Titel aus ihrer Kultur steuern die Geflüchteten selbst bei, auch wenn sie nur deren Melodie summen können. YouTube hilft, Texte werden nach Gehör mitgeschrieben. „Zuhause notiere ich dann den Chorsatz“, ergänzt Samira. Musikalisch lässt sie sich auf alles ein, „solange es zum Chor passt, das bedeutet Lieder mit Power. Lyrische Balladen, die liegen uns nicht so.“ Ein Stück aus ihrem Herkunftsland zur Aufführung zu bringen, ist für viele der Sänger ein berührender Moment.
200 Sängerinnen und Sänger verzeichnete Singasylum seit 2015. Etliche Geflüchtete aber auch Studierende, die nach einigen Semestern in Dresden woanders einen Job annehmen, ziehen irgendwann weiter. Andere bleiben dem Projekt treu. Aktuell hat der Chor 30 Aktive. Neue Mitglieder rücken nach. Von den Geflüchteten hat nahezu niemand sängerische Erfahrung. „Je länger sie dabei sind, desto sicherer sind aber die Töne, die Menschen trauen sich etwas zu, hören aufeinander – und auf mich“, erzählt die Chorleiterin.
Für die Geflüchteten ist die sprichwörtliche deutsche Disziplin beim Proben ein gewaltiger Lernprozess. Den sie häufig problemloser bewältigen als die Konfrontation mit einer jungen Frau als Respektsperson. Samira weiß sich zu helfen, sie spannt etablierte Chormitglieder als Wertschätzungs-Security ein. Auf Augenhöre ‚verhandeln‘ die mit den Störenfrieden. „Ahmad wurde seiner Rolle bislang am besten gerecht“, verrät Samira augenzwinkernd.
„Der Respekt mir gegenüber ergibt sich daraus, dass ich Wissen und Erfahrung weitergebe.“
Danach gefragt, was Samira Nasser durch Singasylum über sich gelernt hat, sagt sie: „Chorleiterselbstbewusstsein. Singasylum ist wie ein Spiegel für mich, der mir zeigt, wie ich auf andere wirke – wann Worte nötig sind, und wann Musik.“
Fotos: Privat / Bundesregierung (1)