Das Prinzip Reformation nutzt sich ab, wenn seine Bezugspunkte zum Leben weniger werden. Besser: Dranbleiben. Je klarer diese Aussage, desto leichter ihre Anwendung, zeigt eine Ausstellung für junge Leute in Halle: Wer hat Angst vor Veränderung? Der ist hier richtig.
Dass ihr Alltag Ergebnis eines 500-jährigen Prozesses ist, halten die meisten Jugendlichen für abwegig. Mit dieser Sicht kommen sie in die Ausstellung „Du bist frei!“, die sie als Klasse oder als Gruppe besuchen. Müssen. „Das merkt man an der Motivation“, sagt Anne Herrmann. Der Studentin gelingt es trotzdem, Null-Bock-Mienen aufzuhellen. Statt einer langen Vorrede über den Thesenanschlag, den Wert von Luthers Bibelübersetzung ins Deutsche oder der Kritik am späten Luther, den die Eigendynamik der Bewegung verbitterte und der sich abfällig über die Juden äußerte, fragt Anne knapp: „Habt ihr schonmal Angst gehabt?“ Was die Schüler meist so verblüfft, dass sie es ohne große Umschweife bejahen. Anne bewarb sich auf einen Aushang am Schwarzen Brett der Universität als studentische Hilfskraft, „weil mich das Thema interessierte“. Über ihren Einstand in die seit Mai 2017 laufende Ausstellung, sagt die 24-Jährige:
„Anfangs habe ich die Schüler gefragt, wovor sie Angst hätten, merkte aber schnell, dass die Frage so zu intim gestellt war. Über Angst redet man nicht gerne vor allen. Also habe ich den Satz variiert.“

Danach gefragt, ob Jugendliche andere Ängste haben als Erwachsene, nickt Anne: „Bei Erwachsenen stehen häufig Geldsorgen im Vordergrund. Bei Kindern und Jugendlichen sind es Prüfungsangst oder die Angst, verletzt zu werden.“
Angst macht „Du bist frei!“ nicht, die Ausstellung setzt sie vielmehr voraus und zeigt am Beispiel Martin Luthers, dass Freiheit erst dadurch entsteht, dass man sich zuvor seinen Ängsten stellt. Sie geht auf „Helden“ ein, die eine Reformatorenfunktion haben, darunter Nelson Mandela und Edward Snowden. Sie zeigt, dass auch Vorbilder Ängste haben und sich Kritik gefallen lassen müssen. So geht Demokratie. Und dass es für jeden eine Methode gibt, Angst in den Griff zu bekommen. Durch Gespräche, Musik oder indem man Werte authentisch vorgelebt bekommt und inspiriert wird, sie anzunehmen. Dazu entwirft die Ausstellung sieben aufeinanderfolgende, interaktive Themenräume, wobei der letzte Raum „Freiheit“ die Synthese bildet.
Irgendwo zwischen Angst und Freiheit springt der Funke auf die Schüler über. Die Fazit-Frage „Was willst du sein?“, hat bislang zwar niemand mit „Reformator“ oder „Reformatorin“ beantwortet. „Trotzdem sind sie bei der Sache“, beobachtet Anne Herrmann, „mit ein paar Ausnahmen vielleicht, die antworten dann: ein Einhorn.“
Was Anne will, ist Räume öffnen. Als Dresdnerin, die mit den extremen Standpunkten und fremdenfeindlichen Tendenzen in ihrer Heimatstadt konfrontiert ist, und die sie sehr ernstnimmt, wünscht sie sich Begegnungen, „soziale Kontakte, aus denen sich vielleicht sogar Freundschaften entwickeln können.“ Sie hält einen Raum dazu offen, indem sie ehrenamtlich in einem Sprach-Café für Geflüchtete mitarbeitet. Sie hat auch den Raum getauscht, als sie nach dem Abitur einen Europäischen Freiwilligendienst machte.
„In der Begegnung mit anderen Menschen erfahre ich etwas über sie. Sie sind dann nicht mehr fremd. Das ermöglicht mir, Ängste zu relativieren und zu differenzieren. Angst entsteht, wenn ein Mensch etwas nicht kennt oder das Komplexe nicht versteht.“
Anne Herrmann sieht ihre Generation in der Pflicht, „kritisch nachzufragen, wenn man etwas nicht versteht.“ Sie appelliert an die jungen Ausstellungsbesucher: „Informiert euch, schnappt nicht bloß Sätze auf!“ Ihr Vorschlag zum Reformationsjubiläum ist „endlich ein Schulfach Medienkompetenz einzuführen.“
„Ich finde, so ein Fach sollte es schon längst geben, noch bevor jeder ein Smartphone hatte. Medien zu konsumieren ist okay, wenn man es bewusst macht. Am Smartphone sind alle ständig online aber auch ständig abgelenkt.“
Die Folge sind Missverständnisse – und Angst. Die muss uns wieder zum Nachdenken bringen, wie damals Martin Luther.
Die Ausstellung läuft bis 26. November 2017.
Fotos: Franckesche Stiftungen / Privat (1)