Läuft alles nach Plan, schwärmen am 20. Mai etwa 500 Menschen durch Saarbrücken, die sich zuvor nie begegnet sind, die aber synchron möglicherweise Luthers Thesenanschlag simulieren, eine Warteschlange vor einer Kirche bilden oder so tun, als blätterten sie in einem Buch. Denn ohne Buchdruck keine Reformation. Und ohne Worte kein Martin Luther. Er gibt das Kommando. „Die Vielzahl seiner Zitate ist der Hammer“, sagt Clara Muth beeindruckt. Sie ist eine von drei Initiatoren des urbanen Schwarms. So heißt der Quasi-Flashmob mit Lutherfokus und dem Titel „Aus der Kutte gesprungen“. Vielleicht zählt das auch als Aufforderung. Sicher ist, das Format nimmt künstlerisch Bezug „auf Werte, die aus der Reformation hevorgegangen sind“. Clara betont: „Einen Belastungstest machen wir nicht. Wir wählen eine Route, bei der niemand kilometerweit laufen muss. Nur ein Handy ist Voraussetzung, um die Nachricht empfangen zu können, wohin der Schwarm als nächstes zieht.“ Das muss nicht einmal ein Smartphone sein. Luther schreibt Mitwirkenden eine SMS. Wer doch moderner kommuniziert, bekommt die Botschaft getwittert.
Reformationsbewegung einmal anders, gesteuert. Von Protestanten, die nicht protestieren und trotzdem auffallen. Auch das geht. Aus dem Ärmel geschüttelt hat Clara Muth das Programm gleichwohl nicht:
Die Reformation sah ich anfangs skeptisch. Das Thema klang wenig wandelbar.
Die 31-Jährige las sich ein und änderte ihre Meinung, als sie merkte, „wie übertragbar die Werte ins Heute sind. Dass sie aufschlüsseln, wie wir die geworden sind, die wir sind.“ Besonders fesselten Clara die „Biografien“ des Bildungssystems und der Sprache, beiden habe die Reformation neue Qualitätsstandards verpasst, und Martin Luther mit seiner Vielzahl markiger Sprüche, Weisheiten und Aphorismen, obendrein ihren Gute-Laune-Wert erhöht. Das klingt verdächtig danach, als erwarte den Lutherschwarm in Saarbrücken eine Aufgabenkomposition aus „seinen Senf dazugeben“, „Perlen vor die Säue werfen“ und „ein Herz und eine Seele sein.“ Ende gut, alles gut.
Fehlt ein Lutherwort? Dann können es die Teilnehmer per SMS oder Tweet ergänzen. Medien sind ein Kerngeschäft der Reformation. Clara Muth schlägt aber auch den Bogen vom göttlichen Auge zum allgegenwärtigen Internet:
„Früher hieß es, Gott entgeht nichts, heute gilt dasselbe auf Facebook.“

Die Wahl-Münchnerin stieß während des Studiums auf die interdisziplinäre Gruppe der Urbanauten, wo sie inzwischen fest arbeitet und Kunst- oder Kulturprojekte im öffentlichen Raum durchführt, mit dem Ziel, „Menschen auf Veränderungen in ihrer Stadt zu stoßen und einzubeziehen“. Zur Reformation, urteilt Clara, passe das Format inhaltlich ziemlich gut. Es vergleiche das historische mit dem modernen Verständnis von Bürgerbeteiligung. Anders ausgedrückt: Wer sich per SMS für den Schwarm anmeldet, hat Spaß, aber weiß nicht genau, was ihn erwartet. Dadurch reagiert er offener darauf, wie ihm Luther tatsächlich begegnet. Zum Beispiel aus der Kutte gesprungen. Clara Muth sagt:
„An Martin Luther gefällt mir, dass er sich bewegt hat, um seiner Bewegung – der Reformation – gerecht zu werden. Daran will ich mir ein Beispiel nehmen. Meine Generation ist in eine angenehme Welt hineingeboren worden. Wir machen uns keine Vorstellung davon, wie schnell uns Werte abhanden kommen können, wenn wir sie nicht wertschätzen.“
Auch Claras Sicht hat sich gewandelt, sie nennt ein Beispiel: „Kirche ist Gottesdienst dachte ich immer. Bis mir bewusst wurde, dass Kirche ein Standing hat, dass sie die gesamte gesellschaftliche Bandbreite an Aufgaben stemmt.“ Der Saarbrücker Schwarm ist eine Kooperation mit der evangelischen Landeskirche, zwei Hochschulen, einem Theater und dem Saarlandmuseum. Die Kirche ist ein sozialer oder soziokultureller Raum unter gleichen.
„Der Protestantismus ist ein ganz flexibles Bekenntnis“, stellte die Urbanautin fest. Abwegig findet sie die Vorstellung, beizutreten, nicht mehr.
Fotos: Ann Lang / Flickr (2)