Von der erfundenen Heldengeschichte zur echten Freiheit

Evangelische Christen feiern am 31. Oktober den Reformationstag. Sie erinnern sich an das Ereignis, das die Gründung ihrer Kirche initiierte. Die Veröffentlichung von Luthers Thesen führte aber auch dazu, dass Deutschland ein Staat wurde, dessen Bevölkerung die Politik der Regierung mitbestimmen darf, dass man hier seine Meinung frei äußern kann, dass Jungen und Mädchen gemeinsam in Schulen lernen, und dass Menschen einander helfen, wenn es jemandem nicht so gut geht oder er alleine ist. Dafür engagieren sich viele von uns sogar ehrenamtlich. Ein Christ spricht dann von Nächstenliebe. Jemand, der es nicht so mit der Kirche hat, sagt dazu „zivilgesellschaftliches Miteinander”. Die Einstellung dahinter ist dieselbe, und die Reformation war ein Motor dieser Entwicklung.

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Am 31. Oktober steht Martin Luther im Vordergrund, es ist Reformationstag.

Wie gewaltig die 95 Thesen den Modernisierungsprozess in der Gesellschaft beschleunigten, dürfte Martin Luther selbst verblüfft haben. Wenn nicht: geschockt. Am 31. Oktober 1517 veröffentlichte der 33 Jahre alte Mönch in Wittenberg einen Text über die Situation der – katholischen – Kirche. Der Papst als ihr Chef, genauso wie viele seiner Bischöfe und Priester, kümmerten sich damals mehr um ihre Macht und ihr Geld als um die Menschen. Das ärgerte Luther. Mit Gott war es schließlich anders vereinbart, fand er. Luther lehrte an Wittenbergs Universität. Dort, fand er, könnte er mit den Professoren mal über die Zustände reden und sie vielleicht dazu bringen, einer Reform der Kirche ihre Stimme zu geben. Luther formulierte seine Papstkritik als 95 Thesen, stichwortartig, und belegte seine Argumente mit Bibeltexten. So, fand er, würde man gut darüber diskutieren  und sich seine Einstellung besser merken können.

Doch bevor es soweit kam, hatte jemand das Thesenpapier heimlich kopiert und an die Bevölkerung der Stadt Wittenberg verteilt. Die Menschen waren fassungslos – vor Begeisterung, denn viele dachten wie Luther! Sie fühlten sich von der Kirche vernachlässigt. Endlich fand sich einer, der ihre Sprache sprach.

thesenDer 31. Oktober 1517 war lange das Datum des „Thesenanschlags”. Erzählt hat die Geschichte zuerst ein Freund Martin Luthers und sein wichtigster Mitarbeiter: Philipp Melanchthon. Er entwarf das Bild von Luther, wie er nachts zur Wittenberger Schlosskirche schlich und seine Thesen dort an die Tür heftete. In Wahrheit dürfte das ein Mitarbeiter der Universität getan haben. Von dort hat sie ein Drucker oder Buchhändler abgenommen und Kopien angefertigt. Vor 500 Jahren setzte der Buchdruck die Medienrevolution in Gang. Statt Bücher und Texte per Hand abzuschreiben, konnte man sie auf Druckmaschinen schnell und in großen Mengen herstellen. Billiger wurden sie dadurch auch. Die Menschen bekamen Lust, zu lesen. Die Sprache des gedruckten Wortes war nicht mehr Latein, sondern Deutsch. Wer noch nicht Lesen konnte, wollte es lernen und empfand Bildung plötzlich als wichtig und notwendig, um im Leben weiterzukommen. Das sahen die Landesherren genauso und investierten in Schulen und Universitäten. Der Buchdruck und die Lust auf Bildung in der Bevölkerung waren am Erfolg der Reformation beteiligt. Martin Luther hat das große Medienecho seiner 95 Thesen gleichwohl überwältigt. Eine Revolution hatte er gar nicht beabsichtigt! So aber wurde er zum Held der „Protestanten”.

thesen9Die Geschichte des Thesenanschlags erzählte Philipp Melanchthon zum ersten Mal 1546, wenige Monate nach Luthers Tod. In Deutschland, das damals noch kein Nationalstaat war wie heute, sondern aus vielen kleineren Herzogtümern und Königreichen bestand, stritten sich evangelische und katholische Herrscher um die Macht und das Bekenntnis. Es gab sogar Krieg. Vielleicht wollte Melanchthon der evangelischen Seite Mut zusprechen und das Volk außerdem über den Tod Luthers hinwegtrösten. Deshalb dachte er sich die medienwirksame Heldengeschichte aus. Erst in den 1960er Jahren einigten sich Geschichtswissenschaftler darauf, dass es richtiger ist, von einer Veröffentlichung der Thesen zu sprechen, statt vom Thesenanschlag. Martin Luther war in der Nacht des 31. Oktober 1517 nicht mit dem Hammer unterwegs. Und Philipp Melanchthon war auch nicht dabei, der wohnte damals noch in Tübingen. Erst 1518 zog er nach Wittenberg und wurde Luthers erfolgreichster Mitstreiter in Sachen Reformation: Unser Bildungssystem, in dem Mädchen und Jungen gleichberechtigt in Klassen unterrichtet werden, war seine Idee!

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Die Reformation war eine Pubertät unserer modernen Gesellschaft. Wandel gehört dazu, wenn man vorankommen möchte. Neue Werte kommen hinzu, alte werden abgestreift. Die eigene Meinung (re-)formiert sich. Und manchmal passiert es, dass sich jemand radikalisiert. Auch das gab es schon vor 500 Jahren.

Wenn Menschen lernen, ihren Weg zu gehen, sich Ziele zu setzen und an etwas zu glauben, ist das Reformation. Dann entsteht etwas Neues. Mit Luther begriff die Gesellschaft, dass es in ihrer Hand lag, was wurde: Wir sind frei!

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