Drei Wege aus dem Klein-klein

Ein Profi-Musiker, der mit Jugendlichen ein Rockfestival auf die Beine stellt, kommt auf die Idee, ein Buch über die Enge einer Jugend in der Provinz der US-Südstaaten zu schreiben. „Zusammen sind wir Helden“, das Debüt des Folkgitarristen Jeff Zentner, lässt Fans der Coming-of-age-Geschichten eines John Green beeindruckt zurück. Das Buch ist ein großer Wurf, obwohl die Bruchstelle zwischen Jugend und Erwachsenwerden kaum größer ausfallen könnte.

Forrestville, Tennessee. Das letzte Schuljahr der drei Freunde Lydia, Travis und Dillard hat begonnen. Nach dem Abschluss werden sich ihre Wege trennen. Lydia zieht es zum Studium nach New York, die Jungs bleiben zurück. Travis will sein Geld als Lagerist im Holzhandel verdienen, nach Feierabend Fantasyromane lesen und in Fanforen mit Gleichgesinnten chatten. Dillard, genannt Dill, träumt von der Musik. Er ist ein guter Gitarrist, schreibt Songs – und hat den Blues. Seine Familie ist hoch verschuldet. Das mindert Dills Chancen, aus der Kleinstadt wegzukommen. Bleiben ist keine echte Option, denn seitdem Dills Vater im Gefängnis sitzt, zeigen die Bewohner Forrestvilles mit den Fingern auf ihn. Lydia rät Dill, etwas aus seinem Leben zu machen. Ihr zuliebe würde er alles tun, merkt Dill. Doch seine Mutter im Stich zu lassen, bedeutet das nicht Sünde? Die religiöse Erziehung richtet sich plötzlich gegen ihn.

Jeff Zentner mutet seinem Leser die Lebenswelt 17-Jähriger und die religiös-konservative Stimmung – wenn nicht: Spannung – in den Südstaaten der USA zu. Seinen Protagonisten eröffnen sich drei Wege aus dem Klein-klein, alle haben wiederum mit Glaube und Werten zu tun.

Die ehrgeizige Modebloggerin Lydia nimmt Kurs auf New York. Vom Kleinstadtmief hat sie die Nase voll, merkt aber, dass sie – möglicherweise gerade wegen des überschaubaren Kontexts – von ihren Eltern eine stabile Basis mitbekommen hat. Forrestville verkörpert für Lydia auch die Freundschaft mit Travis und Dill. Gemeinsam ziehen sie abends los, beobachten Züge oder schreiben Weisheiten auf die Pfeiler einer stillgelegten Brücke im Fluss. Wird die Luft zu dünn, fahren sie für ein paar Stunden ins nahegelegene Nashville, das Dill wiederum schwerer auf der Brust liegt: Sein Vater, ein evangelikaler Pastor, genannt der Schlangenkönig infolge seiner Vorliebe für den Einsatz der Tiere im Gottesdienst, sitzt dort ein. Er wurde mit Kinderpornos erwischt. Dill, von der Mutter beschworen, die Schuld vor Gericht auf sich zu nehmen, hat gegen ihn ausgesagt.

Obwohl Zentner Travis ein nicht minder belastendes Karma auferlegt, einen gewalttätigen Vater, einen bei der US-Armee im Afghanistan-Einsatz tödlich verunglückten Bruder und eine unterwürfige Mutter, wird schnell deutlich, dass der Autor stärker an der Entwicklung von Dill hängt. Ihm mutet er auch die größte Gratwanderung zu, und dem Leser seinetwegen die größte Erleichterung – als dem Pastorensohn aufgeht, dass Demut allein ihn nicht ernähren wird. Dills Glaube bremst ihn erst aus und spornt ihn dann an in dem Maße wie der Junge beginnt, an sich selbst zu glauben.

Jeff Zentner beherrscht die Sprache seiner Zielgruppe und schafft es, die Lebensumstände Heranwachsender in seinem Buch zusammenzuschmieden, ohne zu dramatisch oder zu kitschig zu werden. Travis‘ Versessenheit auf den literarischen Game of Thrones-Klon „Bloodfall“ wirkt fast selbstironisch, stünde sie nicht als Flucht vor der Brutalität in seiner Familie. Ihr entkommt Travis letztlich tatsächlich – und zieht seine Mutter mit, wenngleich anders als man denkt. Erwachsen sein wird zur Sollbruchstelle.

Auch die Eltern müssen lernen, loszulassen

„Zusammen sind wir Helden“, im englischen Original: The Serpent King, ist ein lange nachwirkendes Debüt, das sogar einen eigenen Soundtrack mit sich bringt (leider nur für Spotify-Nutzer zur Gänze hörbar). Wie Jeff Zentner die Geschichte abwechselnd aus der Sicht der drei Hauptfiguren erzählt, macht das Buch zu einem fesselnden Lesestoff. Ein dramatisches Ereignis, das hauptsächlich Dill vor eine Entscheidung stellt, kommt auch für den Leser überraschend und beschleunigt die Handlung noch einmal enorm. Am Schluss steht die Empfehlung, seine Träume in den Alltag hinüber zu retten, manchmal gegen den Willen der Eltern. Damit auch sie lernen, loszulassen. Jeff Zentner hat dafür ausgesprochen berührende Worte gefunden, das ist umso respektabler, weil er sonst in der Musik zuhause ist.

Fotos: Jamie Hernandez / Carlsen

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