Spielend reformiert

Eine Gemeinschaft probt den Aufstand. Matteo, Jan, Freya und Luise erfinden sich neu. Sie wollen nicht mehr auf die Gunst ihres Dorfältesten angewiesen sein, damit ihr Leben Sinn macht. Sie sind etwas wert. Sie können alleine entscheiden, genau das wollen sie ab sofort auch. Dass ihre rebellische Haltung beim Chef nicht gut ankommt, zeichnet sich ab. Die Gruppe steht vor der Wahl: Ihr Ding machen – vielleicht Kopf und Kragen dabei riskieren – oder mit der Obrigkeit verhandeln.

„So eine Situation entsteht immer, wenn man sich entscheiden muss: Wo will ich hin? Wie kann ich andere überzeugen und was ist mir meine Einstellung wert?”, sagt Ras. Seine Situation ist komfortabler als die der vier Jugendlichen. Für ihn geht es um nichts. Für Freya, Jan, Luise und Matteo eigentlich auch nicht, sie spielen ein Spiel. Nach einer Stunde werden sie aufstehen, den Raum verlassen – und sich als Reformatoren bewiesen haben.

Ras alias Rasmus Pechuel hat das Rollenspiel „Nesciamus” (aus dem Lateinischen übersetzt: „Wir sollten nicht wissen“) entwickelt. Im Team mit seinem Verein „Dragon Legion“ schuf der Kölner Informatiker die gleichnamige Fantasywelt. Sie trägt die Züge der Reformationszeit, könnte genausogut ein Verschnitt von Mittelerde oder Phantasien sein. Unterm Strich ist Nesciamus ein Setting, das bei Jugendlichen gut ankommt. Deshalb sind Freya, Matteo, Jan und Luise am Messestand des Vereins auf dem Kirchentag in Berlin stehengeblieben, obwohl die Jungs „Rollenspiele nur am Computer“ kennen und Luise „gar nicht“. Die einzige im Team, die einen Wissensvorsprung hat, ist Freya. „Eine Variante ohne Spielleiter hatte ich allerdings auch noch nicht“, urteilt sie über Nesciamus und schielt nach Ras und seinem Kollegen Mario. Die halten sich, abgesehen von ein paar Startkoordinaten für die Reformatoren, zurück.

Gemütlich ist der Ablauf nicht. Missgelaunte Dämonen, „entstanden infolge eines Krieges, den die Menschen vor langer Zeit führten“, halten den Fortschritt auf. Die Machthaber lassen sich den Schutz der Bevölkerung teuer bezahlen. Wenn sie sich wirklich so viel zutrauen, wie sie behaupten, brauchen die Spieler einen Plan.

Teamarbeit ist gefordert. Heißt: Zunächst muss sich die Gruppe als Team begreifen und demokratisch festlegen, welche Karte wie gespielt wird. Gibt sie wichtige Informationen erst an die Öffentlichkeit und hofft auf breite Zustimmung, oder wendet sie sich an den „Zirkel der Weisen”. Die Jungs sind für den direkten Weg, die Mädchen halten dagegen: „Wenn man sich gegen Unterdrückung wehrt, muss man das an die Medien geben.” Jan kaut auf seiner Unterlippe, er will den Informationsradius nicht zu weit ziehen, „sonst gibt es vielleicht Widerstand, weil man uns nicht glaubt”. Kurze Pause, dann ergänzt der Schüler: „Oder man hält uns für Radikale. Das erging einigen Reformatoren schließlich auch so, die wurden inhaftiert oder umgebracht.” Matteo ist trotzdem dafür, sich den Mädchen anzuschließen, und überzeugt schließlich auch Zweifler Jan:

„Medien bringen Unterstützung, siehe Buchdruck.“

Schnell haben die vier begriffen, „dass der bequeme Weg einen Konflikt oft kurzfristig löst, aber nicht auf Dauer beilegt“, formuliert es Luise.

„Je mehr ich mich einmische, desto höher ist die Chance, etwas zu verändern.“

Damit die Rebellion der Rollenspieler beim Zirkel der Weisen nicht als Putsch ankommt, schlägt Luise vor, die Herolde als Mittler zwischen Volk und Regierung ins Boot zu holen. Gelingt es, sie zu überzeugen, hätte die Bewegung einen seriösen Ruf. Matteo fragt:

„Wie war das eigentlich bei Luther? Wie hat der das gemacht?“

„Luther hatte doch auch wichtige Unterstützer, zum Beispiel in Fürstenhäusern“, antwortet Freya. „Einer hat ihm sogar das Leben gerettet, indem er ihn auf die Wartburg gebracht hat und die Aktion als Entführung getarnt hat, damit der Kaiser keinen Verdacht schöpft.“ Schnell schlägt sie die Brücke zurück ins Spiel: „Ein bisschen Lügen ist ok, wenn es der Sache nützt.“ Luise ergänzt: „Aber das Vertrauen des Volkes dürfen wir nicht zerstören.“

Rasmus Pechuel beobachtet den Spielverlauf jedes Mal wieder mit Begeisterung. „Die Reformation geht uns richtig was an“, findet er, und kann dem Bauprinzip Veränderung viel abgewinnnen. „Reformation ist ein gewollter Umbruch. Gesellschaftliche Strukturen überdenken und sie, wenn es erforderlich ist, verändern, macht absolut Sinn.“

„Jede Generation braucht Reformatoren. Sie sind ganz wichtig. Und mutig, denn sie müssen damit zurechtkommen, angefeindet zu werden. Überall auf der Welt gibt es solche Menschen. Teilweise haben sie es richtig schwer und sind trotzdem bei der Sache. Das finde ich bewundernswert.“

Das Rollenspiel des Aachener Vereins Dragon Legion ist eine Form, Reformation in den Köpfen junger Menschen zu halten. „Eine Gesellschaft ist nur dann gesund, wenn man sie überdenken kann und diese Haltung auch gelernt hat“, findet Ras, „darin besteht die große Chance der Jugend: Jugendliche können diese Haltung lernen, sie sind flexibel und offen.“ An die Erwachsenen hat er indes den Wunsch, „sie mögen die Jugend ernstnehmen.“

Fotos: Dragon Legion

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